Zwischen Autonomie und Anpassung: die dynamische Rechtsübernahme
Pascale Ineichen

Das Binnenmarktrecht entwickelt sich ständig weiter. Die Abkommen wurden deshalb auf der Grundlage entsprechender Beschlüsse der Vertragspartner bereits in der Vergangenheit periodisch aufdatiert. Beispielhaft seien hier einige Anpassungen genannt:
• Landverkehrsabkommen: Anpassung der Regeln, welche Fahrt- und Ruhezeiten im Strassenverkehr festlegen
• Luftverkehrsabkommen: Anpassung der Regeln, um den grenzüberschreitenden Betrieb und die Sicherheit von Drohnen zu gewährleisten
• Technische Handelshemmnisse: Anpassung bezüglich gegenseitiger Anerkennung von Produkten hinsichtlich ihrer elektromagnetischen Strahlung
Dynamische Rechtsübernahme zur Verhinderung der Erosion der Verträge
Um solche Entwicklungen abzubilden, müssen die Abkommen gelegentlich aktualisiert werden. Die geltenden Abkommen sind jedoch statisch ausgelegt. Das heisst, sie werden nur dann angepasst, wenn dies beide Parteien ausdrücklich so beschliessen. Verweigert eine Partei die Anpassung, war bisher kein Mechanismus vorgesehen, um die Differenzen zu bereinigen, falls auf dem diplomatischen Weg keine Einigung erzielt werden konnte. Deshalb kam es zeitweilig zu sachfremden Vergeltungsmassnahmen der EU, wenn die Schweiz in bestimmten Belangen nicht einverstanden war.
Ohne Annahme des Stabilisierungspakets sieht sich die EU künftig nicht mehr verpflichtet, der Schweiz den diskriminierungsfreien Zugang zum Binnenmarkt weiterhin zu gewährleisten und die Verträge anzupassen, selbst wenn diese die EU-Standards freiwillig einhielte. Die EU würde künftig nur noch Hand bieten für Anpassungen, welche in ihrem überwiegenden Interesse liegen. Verschiedene Binnenmarktregelungen würden damit mit der Zeit überholt und es käme zur viel zitierten Erosion der bilateralen Verträge.
Beispiel für eine Vertragserosion: Medizinprodukte
Was es bedeutet, wenn die Abkommen nicht mehr aufdatiert werden, musste die Schweiz bereits schmerzhaft erfahren, als sich die EU nach dem Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen weigerte, das Abkommen über technische Handelshemmnisse im Bereich der Medizinprodukte zu erneuern:
Dies hatte zur Folge, dass in der Schweiz ausgestellte Zertifikate für solche Produkte zurzeit von der EU nicht mehr anerkannt werden. Es braucht deshalb eine neue Zertifizierung in der EU und Schweizer Hersteller müssen zum Erreichen der Produktzulassung entweder einen Bevollmächtigten in der EU einsetzen oder in der EU eine Niederlassung gründen. Betroffene Firmen wurden durch den damit verbundenen administrativen Mehraufwand und die zusätzlichen Kosten empfindlich getroffen.
Der Branchenverband schätzt, dass diese Einschränkung für die Unternehmen mit zusätzlichen Kosten von jährlich 120 Mio. Franken verbunden ist. Die dadurch entstandene Rechtsunsicherheit hat negative Auswirkungen auf Investitionsentscheide und damit auch auf die Standortattraktivität der Schweiz.
Geltungsbereich der dynamischen Rechtsübernahme
Gesamthaft übernimmt die Schweiz im Rahmen des neuen Vertragspakets 95 EU-Gesetzgebungsakte. Diese umfassen nur einen Bruchteil des gesamten Rechts, welches beispielsweise für den europäischen Wirtschaftsraum EWR gilt. Die dynamische Rechtsübernahme wird künftig nur in den bereits bestehenden Binnenmarktabkommen (Personenfreizügigkeit, Landverkehr, Luftverkehr und technische Handelshemmnisse) sowie in den zwei neuen Binnenmarktabkommen (Strom und Lebensmittelsicherheit) angewendet.
Im Landwirtschaftsabkommen findet sie auch künftig keine Anwendung.
Vom Geltungsbereich der dynamischen Rechtsübernahme ausgeschlossen sind alle weiteren Rechtsbereiche der EU, welche nicht direkt den Binnenmarkt betreffen, also beispielsweise EU-Richtlinien zu den Sorgfaltspflichten von Unternehmen oder die Nachhaltigkeitsberichterstattung sowie die Regelung zur künstlichen Intelligenz.
Funktionsweise der Übernahme
Mit der dynamischen Rechtsübernahme verpflichtet sich die Schweiz, die Weiterentwicklung des EU-Binnenmarktrechts im Geltungsbereich der Abkommen im Grundsatz zu übernehmen. Das geschieht aber nicht automatisch, sondern dynamisch und bedeutet, dass die Schweiz über die Übernahme von EU-Recht in ein Abkommen grundsätzlich eigenständig entscheidet, wobei zwei verschiedene Verfahren angewendet werden: das Integrations- und das Äquivalenzverfahren.
Die Übernahme erfolgt unter Wahrung der direktdemokratischen Schweizer Verfahren, das heisst, das Initiativund das Referendumsrecht bleiben auch künftig gewährleistet. Erfahrungen mit der dynamischen Rechtsübernahme konnte die Schweiz bereits im Rahmen der Schengen-Dublin-Abkommen gewinnen, wo diese seit über 15 Jahren angewendet wird und es in der Schweiz aufgrund von Anpassungen auch schon zu Referendumsabstimmungen kam.
Innerstaatlichen Handlungsspielraum maximal nutzen
Neu erhält die Schweiz mit dem Decision Shaping ein Mitspracherecht bei der Erarbeitung neuer EU-Akte, welche die Abkommen betreffen. Damit kann sie sich in Brüssel frühzeitig in den Gesetzgebungsprozess einbringen und ihre Anliegen in diesen Prozess einfliessen lassen. Seitens der Verwaltung sind hier betroffene Akteure aus Wirtschaft und Gesellschaft in einem klar definierten Prozess frühzeitig und aktiv einzubeziehen. Zudem ist sicherzustellen, dass die Rechtsübernahme nicht über die EU-Regeln hinausgeht, das heisst kein Swiss Finish erfolgt.
In der Artikelreihe «Aspekte der bilateralen Verträge mit der EU» beleuchten wir relevante Bereiche des Vertragspakets.