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Psychische Belastung am Arbeitsplatz: Warnsignale frühzeitig erkennen

Die psychische Belastung am Arbeitsplatz nimmt zu. Im Gespräch erläutert Expertin Liliana Paolazzi, Fachverantwortliche Beratung bei Pro Mente Sana, was die Gründe dafür sind und was Unternehmen tun können, um ihre Mitarbeitenden auf das Thema zu sensibilisieren und im Bedarfsfall frühzeitig intervenieren zu können.
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Frau Paolazzi, inwiefern stellen Sie eine Zunahme von psychischen Belastungen am Arbeitsplatz fest?
Sie manifestiert sich vor allem in der steigenden Zahl von Anrufen bei unserem Beratungsdienst. Einerseits kontaktieren uns Arbeitnehmende, die unter zunehmender psychischer Belastung leiden, aber nicht wissen, wie sie mit ihren Vorgesetzten darüber reden können. Andererseits rufen uns immer häufiger Führungskräfte an, die Stress bei Personen in ihrem Team feststellen, aber Schwierigkeiten haben, die Situation anzugehen. Es zeigt sich auch darin, dass uns immer mehr Unternehmen für Workshops anfragen, weil sie ihre Mitarbeitenden zum Thema psychische Gesundheit am Arbeitsplatz sensibilisieren und schulen möchten.

Wie äusserst sich die Zunahme von Stress am Arbeitsplatz?
Anzeichen sind zunehmende Verstimmtheit, sozialer Rückzug oder Gereiztheit, anhaltende Müdigkeit bis hin zur Erschöpfung oder sogar Depression. Auch können sich vermehrt Ängste zeigen: Betroffene fühlen sich überfordert, sind sehr kritisch mit sich selbst und ziehen sich zurück. Kurze, häufige Absenzen sind ein Warnsignal: Ein gutes Absenzen-Management ist deshalb wichtig.

Worauf ist die Zunahme Ihrer Meinung nach zurückzuführen?
Einerseits leben wir heute in einer Multi-Krisen-Welt, die sich beispielsweise im Krieg und in der Umweltzerstörung manifestiert, wobei wir diesen Themen ständig ausgesetzt sind. Dies wirkt sich vor allem auf jüngere Menschen aus, deren Lebenserfahrung noch nicht so viele Krisen beinhalten. Die Corona-Krise war ebenfalls ein wichtiger Faktor: Die Erfahrung von Fremdbestimmt-Sein während der Pandemie hat vieles verändert. Und nicht zuletzt auch aufgrund der Digitalisierung hat sich unsere Arbeitswelt stark gewandelt: Die ständige Erreichbarkeit und die zunehmend schwierigere Abgrenzung von Berufs- und Privatleben, aber auch ein zunehmender Leistungsdruck, fordern ihren Tribut.

Wer ist besonders betroffen?
Ältere Arbeitnehmende sind in der Regel zufriedener als jüngere. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass sie sich im Arbeitsleben «etabliert» haben, über eine gewisse Erfahrung verfügen, die Sicherheit mitbringt, und sich nicht mehr ständig beweisen müssen. Jüngere müssen sich im Arbeitsprozess erst zurechtfinden, stehen unter höherem Leistungsdruck und sind in der entsprechenden Lebensphase auch privat oft stark gefordert.

Wie kann ich feststellen, ob Mitarbeitende in meinem Unternehmen gefährdet sind?
Ein möglicher guter Indikator könnte der Job-Stress Index sein. Er misst, ob die Mitarbeitenden das Gefühl haben, über genügend Ressourcen zu verfügen, um die ihnen gestellten Aufgaben zu bewältigen und wird von Gesundheit Schweiz regelmässig erhoben. Für das eigene Unternehmen kann man den entsprechenden Fragebogen als Analysetool nutzen: Das kostenpflichtige Angebot deckt das Thema breit ab, indem es erfragt, wo es belastende Situationen gibt, und wie erschöpft sich die Mitarbeitenden fühlen. Auf der Basis einer solchen Analyse kann man gezielt Massnahmen ergreifen, um die Situation zu verbessern.  

Insbesondere KMUs haben in den Human Resources oft nur beschränkt Personal verfügbar. Was wäre ein niederschwelliger Ansatz, um das Thema proaktiv anzugehen?
Das Problem ist, dass psychische Belastung am Arbeitsplatz immer noch stigmatisiert ist: Oft wird das Thema nicht frühzeitig angesprochen. Mitarbeitende, die darunter leiden, versuchen lange, eine «Fassade aufrechtzuerhalten» und Führungskräfte, aber auch Teamkollegen getrauen sich nicht zu fragen. Zudem ist kaum Wissen vorhanden, wo die Grenze zu krankhaftem Verhalten bestehen, das über normale alltägliche Belastung hinausgeht.

Pro Mente Sana thematisiert diese Aspekte in halb- oder eintägigen Workshops. Dabei sensibilisieren wir Führungskräfte und Mitarbeitende gemeinsam auf das Thema. Wir vermitteln einerseits Grundwissen über Symptome und Krankheitsbilder, geben aber auch Tipps zur Früherkennung und dazu, wie das Thema offen angegangen werden kann (z.B. in Gesprächen mit Mitarbeitenden). In den Workshops kommen immer auch Betroffene zu Wort, die über ihre Erfahrungen berichten. Oft gibt es einfache Interventionsmöglichkeiten, welche eine Situation verbessern können. Wichtig ist auch zu vermitteln, dass es jede Person treffen kann und dass Mitarbeitende keine negativen Konsequenzen befürchten müssen, wenn sie das Thema ansprechen. Es geht darum, hinzuschauen und Ressourcen aufzubauen, damit eine Situation verbessert werden kann, bevor es zum Zusammenbruch kommt.

Welche präventiven Massnahmen kann ein Unternehmen vorsehen?
Idealerweise verfügt ein Unternehmen im Rahmen von Human Resources über ein betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM). Andererseits ist ein wichtiger Faktor auch die Unternehmenskultur: Diese muss zulassen, dass solche Themen frühzeitig angesprochen werden können - zum Beispiel wenn Mitarbeitende etwas beobachten, das auf eine ungesunde psychische Belastung hindeutet. Es gilt, im Alltag eine entsprechende Haltung zu etablieren.

Welche Ressourcen stehen Unternehmen darüber hinaus noch zur Verfügung?
Analog von Erste-Hilfe-Kursen zur richtigen Reaktion bei einem physischen Notfall existiert, neben den bereits erwähnten Sensibilierungsworkhops, mit den Erste-Hilfe-Kursen für psychische Gesundheit Kursen von ensa auch ein Angebot, welches die richtige Reaktion in psychischen Notfällen schult. Die ensa Kurse vermitteln Basiswissen über Krankheitsbilder, wobei Teilnehmende lernen, Probleme frühzeitig zu erkennen, wertfrei anzusprechen und Betroffene zu unterstützen. Der ausführliche Kurs von zwölf Lektionen vermittelt einen umfassenden Überblick, im kürzeren, halbtägigen Kurs für Führungskräfte geht es vor allem um Tipps für eine gute Gesprächsführung. Eine gute Ressource ist auch Gesundheitsförderung Schweiz und die Wie-geht-es-dir-Kampagne, welche Informationen und Material für die Sensibilisierung zum Thema zur Verfügung stellt.

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