Neue Verhandlungen mit der EU – das grosse Ganze zählt
Jérôme Müggler

Unter dem Beizug von externen Fachexperten – und expertinnen haben die Vorstände der beiden Industrie- und Handelskammern in den vergangenen Jahren mehrfach Diskussionen über die Zukunft der bilateralen Beziehungen mit der EU geführt. Sie sind dabei zur Einsicht gelangt, dass der bilaterale Weg das bevorzugte Modell zur Schweizer Teilnahme am europäischen Binnenmarkt ist. Daraus sind zwei umfassende Publikationen entstanden, welche die Ausgangslage sowie die gemeinsamen Positionen der beiden Kammern festhalten.
Die beiden Ostschweizer Wirtschaftsverbände haben 2022 ihre Mindestanforderungen an die bilateralen Beziehungen formuliert:
- Bestehende Binnenmarktabkommen (insbesondere Bilaterale I) erhalten
- Neue Binnenmarktabkommen (z.B. Strom) ermöglichen
- Institutionellen Besonderheiten der Schweiz angemessen Rechnung tragen
- Gerichtliche Streitbeilegung in den Binnenmarkt abkommen
- Bei festgestellter Vertragsverletzung: Höchstens sachgerechte und verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen
Paketansatz bietet Perspektive
Nach einer ersten Lesung des nun vorliegenden Paketansatzes, den der Bundesrat am Ende 2023 vorgestellt hat, scheinen diese Mindestanforderungen erfüllt zu sein und die positiven Aspekte für die Schweizer Wirtschaft klar überwiegen. Die «heissen Eisen» wie Souveränität, Lohnschutz und Zuwanderung werden im vorliegenden Entwurf für ein Verhandlungsmandat angesprochen und zeigen einen höheren Konkretisierungsgrad. Wichtig ist, dass die noch offenen Punkte rasch geklärt und, wo nötig, präzisiert werden.
Folgende Elemente sind im neuen Paket vorgesehen:
- Institutionelle Elemente: dynamische Rechtsübernahme, einheitliche Auslegung der Abkommen, Überwachung, Streitbeilegung
- Personenfreizügigkeit: Prinzipien und Ausnahmen bezüglich Einwanderung und Lohnschutz
- Neue Abkommen: Strom, Lebensmittelsicherheit, Gesundheit
- Gesicherte Beteiligung an EU-Programmen: Forschung, Innovation, Bildung, Jugend, Sport, Kultur und weitere Bereiche
- Vorschriften über staatliche Beihilfen im Luftverkehrs- und Landverkehrsabkommen sowie dem künftigen Stromabkommen
- Verstetigter Schweizer Beitrag: rechtsverbindlicher Mechanismus für künftige Beiträge
- Politischer Dialog: Steuerungsinstrument des bilateralen Wegs
Neue sektorielle Abkommen
Der hindernisfreie Zugang zum EU-Binnenmarkt als Kernstück des Pakets wird von den beiden Industrie- und Handelskammern als entscheidend gewertet. Neben der Aktualisierung der bestehenden Binnenmarktabkommen unterstützen die beiden Kammern den Abschluss neuer, notwendiger sektorieller Abkommen in den Bereichen Strom und Lebensmittelsicherheit.
Institutionelle Fragen sollen direkt in den einzelnen Binnenmarktabkommen geregelt werden, was im Gegensatz zum institutionellen Rahmenabkommen als der bessere Weg erscheint. Die enge Kooperation und staatsvertraglich abgesicherte Einbindung in den europäischen Strommarkt hätte nicht nur Verbesserungen für die Energiesicherheit zur Folge, sondern auch für den Stromhandel, welcher langfristig rechtlich abgesichert wäre.
Die erfolgversprechendste, wirtschaftlich sinnvollste und am einfachsten umsetzbare Massnahme ist hierbei die Sicherung eines Stromabkommens mit der EU.
Mechanismus zur Streitbeilegung
Als wirtschaftlich und politisch weniger mächtige Vertragspartei profitiert die Schweiz von einem rechtlich beidseitig bindenden Streitbeilegungsmechanismus als Fundament der bilateralen Beziehungen. So hat die Schweiz heute keine andere Möglichkeit ausser dem politischen Dialog, um sich gegen einseitige Beschlüsse der EU zu wehren.
Eine gerichtliche Instanz schafft Klarheit und verhindert, dass Uneinigkeiten über Jahre nicht beigelegt werden und stattdessen unverhältnismässige einseitige, politische Vergeltungsaktionen provozieren. Dadurch wird die Rechtssicherheit auch aus Sicht der beiden Ostschweizer Wirtschaftsverbände gestärkt. Weiter werten die beiden Kammern die vorgesehene Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich und die systematische Teilnahme an EU-Programmen, insbesondere in den Bereichen Bildung und Forschung (z.B. Horizon Europe und Erasmus+).
Hier hat sich in den vergangenen Jahren gezeigt, dass sich ein «erzwungenes» Fernbleiben der Schweiz in europäischen Forschungsprogrammen negativ auf den hiesigen Innovations- und Forschungsstandort ausgewirkt hat. Schweizer Forscherinnen und Forscher sind teilweise genötigt, ihre Aktivitäten und Projekte an ausländische Universitäten zu verlegen, um international in der höchsten Liga mitspielen zu können. Das kann nicht im Interesse der Schweiz sein.
Für Verhandlungen braucht es Zwei
Abschliessend kann im Namen der beiden Industrie- und Handelskammern Thurgau und St.Gallen-Appenzell gesagt werden, dass mit den nun anstehenden Verhandlungen endlich ein Licht am Ende des «Verhandlungstunnels» ersichtlich wird. Ein stabiler Zugang zum europäischen Binnenmarkt, der sich den stets ändernden Rahmenbedingungen anpassen kann, ist im Sinne der exportorientierten Ostschweizer Unternehmen. Dabei ist klar, dass die demokratischen Prozesse der Schweiz nicht ausgehebelt werden dürfen.
Letztlich ist zu vermerken, dass das Resultat von Verhandlungen immer von den Interessen und Zugeständnissen beider Seiten geprägt ist. Eine abschliessende Beurteilung des Pakets kann erst nach dem Abschluss der Verhandlungen vorgenommen werden. Im gleichen sind die beiden Kammern aber klar der Auffassung, dass der nun gestartete Prozess zu einem erfolgreichen Verhandlungsabschluss und zu einer zukunftsfähigen bilateralen Beziehung zur EU führen muss.