Bilaterale III über den Sommer in der Vernehmlassung
Pascale Ineichen

In den nun abgeschlossenen Verhandlungen geht es einerseits um die Aufdatierung und Weiterentwicklung der fünf bisherigen, sektoriellen Binnenmarktabkommen mit der EU. Diese regeln folgende Bereiche: Den Abbau technischer Handelshemmnisse (im MRA), die Personenfreizügigkeit, den Landverkehr, den Luftverkehr sowie den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Die fünf Abkommen sind mit der Guillotine-Klausel verknüpft, das heisst, wenn eines davon gekündigt wird, fallen alle anderen ebenfalls dahin. Dies wäre zum Beispiel bei einer Annahme der Kündigungsinitiative («keine 10-Millionen Schweiz») der Fall, welche die Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens zur Folge hätte. Zusätzlich wurden zwei neue Binnenmarktabkommen abgeschlossen: Mit dem Strommarktabkommen, können Schweizer Akteure gleichberechtigt und hindernisfrei am europäischen Strommarkt teilnehmen und Swissgrid wird vollständig in die europäischen Prozesse zum Betrieb des Übertragungsnetzes eingebunden, was wesentlich zu Netzstabilität und Versorgungssicherheit beiträgt. Das zweite neue Abkommen zur Lebensmittelsicherheit dient vor allem der Erhöhung des Verbraucherschutzes und der Verhinderung von Gesundheitsgefährdung. Für die bisherigen und die zwei neuen Binnenmarktabkommen (mit Ausnahme der Landwirtschaft) gilt künftig die dynamische Rechtsübernahme, welche die Schweiz bereits seit 17 Jahren im Rahmen des Schengen/Dublin-Abkommens praktiziert. Die dynamische Rechtsübernahme ist auf den engen, thematischen Geltungsbereich der Abkommen beschränkt. Rechtsakte der EU, welche über diesen hinausgehen (z.B. die Verordnung zur künstlichen Intelligenz, das Lieferkettengesetz oder die Nachhaltigkeitsberichterstattung) müssen von der Schweiz nicht übernommen werden. Des Weiteren kooperiert die Schweiz mit der EU im Rahmen der Bilateralen III im Bereich der Prävention und Bewältigung von grenzüberschreitenden Gesundheitsproblemen und ist als vollassoziiertes Mitglied in das Forschungsprogramm Horizon sowie das Mobilitätsprogramm Erasmus eingebunden. Die Schweiz zahlt gemäss den Verhandlungen einen jährlichen Kohäsionsbeitrag von 350 Mio. CHF pro Jahr, welcher in Programme und Projekte von Partnerländern fliesst, um die wirtschaftlichen Unterschiede im Binnenmarkt zu verringern.

Handlungsspielraum bezüglich der innerstaatlichen Umsetzung Gegenstand der nun anlaufenden
Gegenstand der nun anlaufenden Vernehmlassung ist vor allem die Umsetzung der Verträge im innerstaatlichen Recht. Insbesondere zwei Aspekte stehen im Vordergrund: Die Regelung der Zuwanderung und die Sicherstellung des Lohnschutzes. Bei schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen kann die Schweiz die neu definierte Schutzklausel im Personenfreizügigkeitsabkommen anrufen und entsprechende Massnahmen treffen. In der Vernehmlassung wird nun diskutiert, wie dieser Prozess ausgestaltet werden soll. Der Bundesrat sieht Schwellenwerte für die Nettozuwanderung, die Grenzgängerbeschäftigung, die Arbeitslosigkeit und die Höhe der Sozialhifebezüge vor. Werden diese überschritten, muss der Bundesrat die Anrufung der Schutzklausel prüfen und Massnahmen vorschlagen. Auch wenn weitere Indikatoren wie Zuwanderung, Wohnungswesen, Verkehrsbelastung, etc. Schwellenwerte überschreiten, kann die Schutzklausel angerufen werden. Damit soll sichergestellt werden, dass die Zuwanderung aus der EU in die Schweiz arbeitsmarktbezogen bleibt. Bis in zehn Jahren fehlen der Schweiz aufgrund der demografischen Entwicklung eine halbe Million Arbeitskräfte – sie wird auch künftig auf arbeitsmarktorientierte Zuwanderung angewiesen sein.
Lohnschutz bleibt gewährleistet
Im Bereich des Lohnschutzes gelang es der Schweiz, das Prinzip «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» durchzusetzen sowie das aktuelle Niveau des Schweizer Lohnschutzes abzusichern (non-regression clause). Des Weiteren hat sie verschiedene Ausnahmen erwirkt, die in der Zusammenarbeit mit Entsendebetrieben gelten (z.B. hinsichtlich der Voranmeldefrist oder der Kautionspflicht). In über 80 Gesprächsrunden haben sich die Sozialpartner und die Kantone schliesslich im Frühjahr auf einen Massnahmenkatalog von 14 Massnahmen geeinigt, der unter anderem Kompensationsmassnahmen vorsieht, wo bei den Verhandlungen Zugeständnisse an die EU gemacht werden mussten. Auch bereits allgemeinverbindlich erklärte Gesamtarbeitsverträge werden damit abgesichert. Diese Massnahmen werden nun im Vernehmlassungsverfahren nochmals geprüft.
Vernehmlassung und weiteres Vorgehen
Die Industrie- und Handelskammer Thurgau setzt sich intensiv mit den Bilateralen III auseinander. Im Mai hat sich der Vorstand gemeinsam mit den Vorständen der Industrie- und Handelskammer St.Gallen-Appenzell sowie der Zürcher Handelskammer aus erster Hand von Staatssekretärin Helene Budliger-Artieda sowie dem stellvertretenden Staatsekretär Patric Franzen über den aktuellen Stand der Verträge und der schweizerischen Gesetzgebung informieren lassen. Die drei Handelskammern werden die Verträge und v.a. die innerstaatliche Umsetzung im Rahmen der Vernehmlassung analysieren, sie nach der Sommerpause intern diskutieren sowie anschliessend eigenständig Parolen fassen. Das Vernehmlassungsverfahren dauert voraussichtlich bis Ende Oktober. Eine Referendumsabstimmung ist auf Herbst 2027 oder fürs Jahr 2028 zu erwarten.